StartseiteMagazinKulturAbsurdistan zwischen Chorproben

Absurdistan zwischen Chorproben

Der Isländer Hafsteinn Sigurðsson erzählt im grossartig komponierten Spielfilm «Under the Tree» von Nachbarschaftls-Konflikten, die eskalieren und provozieren.

«Under the Tree» besteht aus einer kunstvollen Aneinanderreihung und Verflechtung von Kurzgeschichten, unterstützt von einer starken Ton- und Musikspur, gespielt von klug ausgewählten Darstellerinnen und Darstellern und ist voll tragischer Menschenschicksale, geordnet, wenn man so will, in drei Kreisen, dem ersten mit Atli und Agnes, dem zweiten mit Inga und Baldvin und dem dritten mit Konrád und Eybjörg als Nachbaren.

Agnes überrascht ihren Mann Atli, nachdem er sich im Bett von ihr abgewendet hat, am Computer vor einem Porno, in dem er es mit Rakel, einer ihr bekannten Frau, getrieben hat und jetzt dazu onaniert. Unverzüglich jagt sie ihn aus dem Haus. Bei seinen Eltern Inga und Baldvin erhält er Unterschlupf. In deren Garten steht ein riesiger Baum, der ihren Nachbarn Konrád und Eybjörg die Sonne verdeckt. Die Bitte der vom Schattenwurf Geplagten, etwas zu unternehmen, verhallt im tiefen Graben, der sich zwischen ihnen auftut. Atli versucht verzweifelt Kontakt zu seiner Frau und der gemeinsamen Tochter. Während er sich ins Abseits manövriert, steigert sich der Streit in der Nachbarschaft, mit verschwundenen Haustieren, aufgeschlitzte Autoreifen, einer Überwachungskamera und bösen Worten.

Agnes und Atli, im Mittelpunkt

Vor zwei Jahren überraschte uns das isländische Kino mit Grímur Hakonarsons «Rams, einem Spielfilm, der durch seine Fremdheit gefangen nimmt, der Menschen in ihrer Verschlossenheit und Kommunikationslosigkeit beschreibt. Der neue isländische Spielfilm «Under the Tree» von Hafsteinn Gunnar Sigurðsson handelt von ähnlichen Schwierigkeiten bis Unmöglichkeiten der Kommunikation und Kooperation. Obwohl die Menschen sich nahe, vielleicht zu nahe stehen, gibt es keine Verständigung und Begegnung. – Die isländische Filmindustrie ist im Gegensatz zur schweizerischen klein, nur fünf bis sechs Produktionen entstehen pro Jahr im zweitgrössten Inselstaat Europas. «Under the Tree» gehörte 2017 dazu und wurde in Venedig uraufgeführt.

Inga, Atlis Mutter

Sigurðsson, der Filmemacherder 1978 in Reykjavik geboren wurde, scheint kein Erbarmen zu kennen mit den bedauernswerten, glücklosen Menschen dieser Welt. Der Film erweist sich als zynische Tragikomödie mit unerwartetem Handlungsverlauf, in dem letztlich alle Verlierer sind. Was sich allmählich hochschaukelt, eskaliert am Schluss ins Absurde. Die harmlose Familiengeschichte mutiert zur sarkastischen Parabel. Diese legt mit den Mitteln des schwarzen Humors die unterdrückten Aggressionen, den angestauten Missmut, die unterschwellige Trauer und die sexuelle Frustration seiner Figuren schonungslos offen. Die tragischen und komischen Momente liegen so nah beieinander, dass einem das Lachen im Hals oft stecken bleibt. Die Geschichte erzählt von bemitleidenswerten Menschen in Szenen unfreiwilliger Komik. Inga ist, was man erst spät erfährt, wegen ihres toten zweiten Sohnes Uggi vergrämt und verbittert. Auch bei Eybjörg und Konrád nebenan scheint einiges sonderbar zu laufen. Kurz vor Schluss überschlagen sich die Ereignisse. Der Film erinnert an «Michael Koolhaas» von Heinrich Kleist, weitet sich aber zur Geschichte kollektiver Selbstjustiz.

Baldvin, Atlis Vater, und Konrád

Aus einem Interview mit dem Regisseur Hafsteinn Gunnar Sigurðsson

Woher kam die Idee zu deinem Film, beruht er auf wahren Begebenheiten?
Mein Co-Autor Huldar Breiðfjörð und ich begannen vor etwa zehn Jahren, über diese Idee zu diskutieren. Es faszinierte uns, einen Film über nachbarschaftliche Auseinandersetzungen zu drehen. Was mich dabei besonders reizte, war die Tatsache, dass solche Konflikte oft zwar witzig beginnen, die Probleme aber gross und grösser werden und sich zu gewaltigen Explosionen steigern, in denen normale Menschen ihre Würde verlieren können.
Geschichten von Nachbarn, die sich über Bäume streiten, sind in Island verbreitet. Tatsächlich ist der Film auch von einem realen Vorfall inspiriert, obwohl das Drehbuch diesen dann zu etwas rein Fiktivem weiterentwickelt hat. Wichtig ist zu wissen, dass es in Island nicht so viele Bäume und nicht so viel Sonnenschein hat. Wenn also ein alter, schöner Baum in deinem Garten steht, wirst du ihn sehr wahrscheinlich nicht entfernen. Und wenn ein Baum im Nachbarsgarten dir das Sonnenlicht wegnimmt, wirst du diesen Baum jedoch entfernen wollen. Es ist ein Dilemma, das kaum zu lösen ist.

Gab es im Alltag etwas, das dich für diesen Film besonders motivierte?
In meinen Filmen war ich schon immer von Banalitäten fasziniert, und ich finde, dass diese eine grossartige Quelle für Filme sind. Weil unser Leben oft aus solchen Alltäglichkeiten besteht, wissen wir das. Ich glaube, dass dies ein Element ist, das Menschen verbindet. Ich empfand es als Herausforderung, ein thriller-ähnliches Drama über etwas zu machen, das unschuldig ist wie ein Baum. Einen Kriegsfilm sozusagen, in dem das Zuhause das Schlachtfeld ist.

Siehst du den Film als Warnung für unsere Zeit?
Es gibt heutzutage schreckliche Dinge, ich denke, wir haben den Punkt erreicht, an dem die Existenz auf unserem Planeten ernsthaft bedroht ist, wenn wir uns die grossen Themen unserer Zeit ansehen, den Klimawandel etwa. Die ganze Welt müsste bestimmte Lebensweisen aufgeben. Doch das scheint unmöglich. Wir alle haben das gleiche Ziel, müssen Kompromisse finden und aufeinander Rücksicht nehmen, wenn wir nicht die Zukunft unserer Kinder riskieren wollen. Doch das können wir immer noch nicht. Ist das nicht verrückt? Es ist diese schreckliche individualistische Art zu denken und zu leben, die von unserer kapitalistischen Gesellschaft gefördert wird.

Während der Entwicklung des Drehbuches versuchten wir, die Erzählung für verschiedene Deutungen zu öffnen. So wurde es zu einer Art Fabel, wie die Menschen miteinander leben. In diesem Sinn kann man den Film auch als Geschichte von zwei Nationen, ethnischen oder religiösen Gruppen oder unsern Nachbarn lesen und verstehen.

Titelbild: Männerchorprobe, Baldvin in der Mitte

Regie: Hafsteinn Gunnar Sigurðsson, Produktion: 2017, Länge: 89 min, Verleih: Präsens

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