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Als farbiger Deutscher aufwachsen

Wie erlebt ein junger Mann, dessen Vater Nigerianer ist, seine Kindheit und Jugendzeit in der Bundesrepublik der 1970er und -80er Jahre.

Sobald Ijoma in der Lage war zu telefonieren, meldete er sich, wenn es klingelte, mit seinem vollen Namen: Ijoma Alexander Mangold. Nicht unbedingt, weil er den Rhythmus in diesen neun Silben erkannte, so schreibt der Autor in der Autobiografie seiner frühen Jahre, sondern er versuchte damit, «sein Schicksal abzuschwächen. Sein zweiter Vorname soll die Exotik seines ersten Vornamens mildern.» Dabei stolperten die Menschen nicht so sehr über das Seltsame dieses Namens, sondern über das Ungewohnte. Das Kind Ijoma wollte jedoch wie fast alle Kinder nichts weniger als eine Ausnahme sein.

Ijoma Mangold bei einem Vortrag in Osnabrück im Februar 2016.
Foto: Krimidoedel / commons.wikimedia.org

Längst ist Ijoma Mangold, geboren 1971, erwachsen geworden und hat sich als Literaturkritiker unter anderem in der ZEIT einen guten Ruf erworben. Seine Autobiografie «Das deutsche Krokodil» erscheint uns Lesenden als eine Bestandesaufnahme der heiteren und dramatischen Erfahrungen seiner Jugend. Dem Autor bot sich hier die Gelegenheit, aus einer gewissen Distanz sich selbst zu erforschen. Entstanden ist ein vielschichtiges, brillant geschriebenes Buch über die Jahrzehnte nach den legendären 68er-Jahren, aber auch darüber, was vom Naziregime, dem Zweiten Weltkrieg und der Vertreibung aus Schlesien noch nachwirkte. Und natürlich darüber, wie ein junger deutscher Intellektueller Afrika erlebt.

Sein Vater, Kinderchirurg und Klinikchef in Nigeria, ist allerdings zwanzig Jahre lang inexistent. Der Vorname Ijoma, schreibt Mangold, sei dessen einzige Hinterlassenschaft. Er grollt dem Vater nicht, aber weil er den Vater nicht kennt, möchte er am liebsten nichts von ihm wissen, obwohl seine Mutter ihn als sehr liebenswert schildert. Ein Zufall, ein «Betriebsunfall» war Ijomas Geburt keineswegs. Das aus Ebenholz geschnitzte schwarze Krokodil auf dem Fenstersims stand ihm symbolisch für das gespaltene Verhältnis zum Vater. Ijoma hätte es manchmal am liebsten versteckt, vor allem vor anderen Kindern.

Der Junge wächst in Heidelberg mit einer alleinerziehenden Mutter auf, was in den 50er Jahren kriegsbedingt häufig vorkam und im 21. Jahrhundert durch die Zunahme der Scheidungen nicht mehr ungewöhnlich ist. Seine Mutter und seine Grossmutter, aus Schlesien stammend, bleiben lange seine wichtigsten Bezugspersonen. Als Kinder- und Jugendpsychologin – der kleine Ijoma lernt schnell die korrekte Berufsbezeichnung – hat sie eine erfüllende Arbeit, zu grossem Reichtum bringt sie es aber nicht. Darüber klagt der Sohn nicht, im Teenageralter wird ihm allerdings bewusst, dass er seine Freunde, die in bürgerlichem Wohlstand leben, nicht zu sich einladen kann.

«War ich überassimiliert, deutscher als jeder Deutsche?»

Das fragt sich Mangold. Ein Aussenseiter unter den Gleichaltrigen ist er allemal. Für Fussball interessiert er sich nicht, lieber liest er sich durch den gut bestückten Bücherschrank seiner Mutter: Thomas Mann, James Joyce, Theodor Fontane – und er entdeckt seine Vorliebe für Richard Wagner. Trotzdem ist Ijoma kein Einzelgänger, er hat gleichgesinnte Freunde, kann in Theatergruppen mitmachen und wird als Teenager in eine Gruppe jugendlicher Querdenker aufgenommen. In der Schule scheut er sich nicht, ein Referat über Friedrich Engels Schrift über die Bauernkriege zu halten, worauf er sich den Zorn eines reaktionären Lehrers zuzieht, bei dem er später Hebräisch-Kurse besuchen wird. Kurz gesagt: Der junge Mangold war wissensdurstig und lernbegierig, unerschrocken, wenn es drauf ankam, ein aufmerksamer Beobachter, dazu zeichnete er sich schon damals durch viel Sprachgefühl aus. Dass er nach dem Abitur in München Literaturwissenschaft und Philosophie studierte, schien ein logischer Schritt.

Chief in einem nigerianischen Dorf oder deutscher Intellektueller?

Eines Tages erhält er in München einen Brief von seinem Vater – für den jungen Studenten eine totale Überraschung. «Höhere Mächte würden schalten und mich meiner Freiheit berauben», befürchtet er. Nun, er muss sich auf seine grosse afrikanische Familie einlassen, besucht sie in Nigeria. Staunend erkennt er, dass ihn seine Verwandten diskussionslos in die Familie einbeziehen, schliesslich versucht eine Cousine sogar, ihn in Nigeria zu verheiraten. – Aber hier fühlt sich Ijoma noch mehr als Aussenseiter, obwohl er mit seinen Halbschwestern gut zurechtkommt. Sein Vater war nicht nur in seiner Klinik der Chef, sondern auch in der Familie und in seinem Dorf, der Chief hatte für das Wohlergehen «seines Dorfes» zu sorgen, wenn nötig mit Geld, aber auch bei Streitigkeiten. Für Ijoma war ebenfalls ein Häuptlingsgewand angefertigt worden. Es dauert eine Weile, bis er – der älteste Sohn – erfährt, dass der Vater ihn als seinen Nachfolger einsetzen möchte. Es ist der entscheidende Punkt, der Ijoma bewusst macht, dass er nach Europa gehört: Seine afrikanische Familie funktionierte «pathetisch, nicht analytisch, dynastisch, nicht individuell». Eines Tages soll er von den Ältesten ins Dorf aufgenommen werden und statt Mangold den Namen seines Vaters annehmen. Das ist ihm nun definitiv zu viel. Mit feinem Humor beschreibt der Autor, wie er im Bad unbändige Lust verspürte, eine Melodie aus dem «Rosenkavalier» zu singen. – Mangolds Sprachkunst sprüht in diesem Kapitel vor plastischen Bildern und dramatischen Szenen.

«Verband mich etwas mit Harry Belafonte, weil wir dieselbe Hautfarbe hatten?»

Seine Leseerfahrungen, Musikerlebnisse, seine Reisen mit seiner Mutter – all das erfüllt den jungen Mangold, lässt ihn reifen, seine Beobachtung und seine Sprache schärfen. Daneben treibt ihn immer wieder seine Hautfarbe um, bzw. seine Haare. Auch wenn seine Umgebung ihn akzeptiert, sein Anderssein nicht wahrnehmen will, er selbst stellt sich die Frage immer wieder neu. Soll er sich als Afrodeutscher bezeichnen wie ein junger Mann im Heidelberger Umfeld? Nein, das passt ihm nicht.

Auf einer Reise in die USA lernt er Edward, Pfarrer in Brooklyn, kennen, der ihm ein väterlicher Freund wird. Von ihm erfährt er, was Rassismus bedeutet. So erklärt Edward, dass Ijoma abends spät im Zug nicht ins Buch schauen dürfe, wenn die Bahn anhält, er müsse schauen, wer einsteigt, um entsprechend vorbereitet zu sein. In Bezug auf Haut und Haar fühlt sich Mangold in Los Angeles und Kalifornien am wohlsten, die Menschen dort sind «farbenblind», meint er, es sei der einzige Fleck auf Erden, wo Hautfarbe keine Rolle spielt.

Ijoma Mangold setzt den Untertitel «Meine Geschichte», doch gelingt ihm in diesem Buch auch eine differenzierte Zeichnung der Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Der Autor erweist sich als präziser Erzähler mit feinem Humor, sensibler Beobachtungsgabe und vollkommen frei von jeglicher Eitelkeit. Ein Buch, das uneingeschränkt zu empfehlen ist, gerade denjenigen, die sich an die Atmosphäre vor ca. 40 Jahren erinnern können. – Der gesellschaftliche Diskurs hat sich seitdem verändert.

Ijoma Mangold: Das deutsche Krokodil. Meine Geschichte.
Rowohlt Verlag 2017. 345 Seiten
ISBN 978 3 498 04468 8
auch als E-Book erhältlich

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