StartseiteMagazinKolumnenDas System ist ausgestiegen

Das System ist ausgestiegen

Unsere vernetzte Welt hat ihre Tücken. Wer bei einer Tasse Tee über die Abhängigkeit von digitalen Innovationen nachdenken will, muss aufpassen: Vielleicht liefert «Das System» kein heisses Wasser.

Da sitze ich an einem schönen, sonnigen Tag draussen vor einem Restaurant, ganz nah an einem Bahnhof, im Gärtli. Genau genommen ist es einfach ein kleiner Platz, mit Pflanzentöpfen von den vorbeispazierenden, vorbeieilenden Passanten abgetrennt. Auch der Autolärm ist nicht weit. Ich nenne das jeweils einen «Stadtstrand». Ein Erlebnis, wie an einem Strand. Es wellt und wogt um mich herum. Natürlich nicht am Wasser, sondern so richtig «urban».

Ich bestelle das Einfachste, was ich bestellen kann, einen Tee. Und warte. Habe ja Zeit, gute Laune, die Sonne scheint, fühle mich versöhnt mit allem. Ein interessantes Gespräch liegt hinter mir. Gelegentlich werde ich den Zug besteigen und nach Hause fahren.

Nach einiger Zeit huscht die Serviertochter vorbei und flüstert, es tue ihr leid, es gehe etwas länger, das System sei ausgestiegen. Deutet auf den Kleincomputer in ihrer Hand, schon ist sie wieder weg.

Dieses Instrumentchen kenne ich von meinem Stammcafé zuhause. Das Servicepersonal tippt meine Wünsche ein, bringt mir das Bestellte, ohne dass je ein Fehler passiert. Und wenn ich bezahlen will, zählen sie am Tisch wieder auf dem Compüterchen zusammen, was ich konsumiert habe. Perfekt!

Mein Tee ist im Anflug. Und weil das Wetter so schön, mein Gemüt so locker und die Serviertochter so keck ist, verwickle ich sie in ein Gespräch. «Dieser Tee, in diesem raffinierten Krüglein mit integriertem Sieb, besteht aus Teekräutern und heissem Wasser» sage ich. «Und jetzt musste ich so lange warten». Die junge Frau ist sichtlich froh, dass sie ihren Frust abladen und mich aufklären kann.

Wenn sie meine Bestellung eintippe, bekomme sie einen Bon. Und nur mit dem Bon erhalte sie dann den Tee. Wenn aber das System aussteige: kein Bon, kein Tee. Dann müsse sie zuerst den Chef suchen, der das System verstehe. Und wieder in Gang bringe. Denn das könne sie selbst nicht. Aber jetzt klappe es wieder.

So so, dachte ich. Behielt aber jede schnöde Bemerkung für mich. Machte mir meine Gedanken. Zum Glück wohne ich nicht in einem «intelligenten Haus», dachte ich. Vielleicht heisst es auch «smart home». Ich habe einmal eines besichtigt, erinnere mich aber nicht mehr genau an alles.

Da existierte auch ein «System», alles ist mit allem vernetzt. Der Wecker mit den Fensterstoren, die Storen mit der Kaffeemaschine, die Kaffeemaschine mit dem Service-Roboter, der den Kaffee bringt. Und beim letzten Tropfen, der in die Tasse fliesst, geht das Signal von der Kaffeemaschine an die Automatik des Bettes, die sich von selbst verstellt. Weil es sich im Sitzen besser trinkt als im Liegen!

Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, was alles passieren kann, wenn das «System» aussteigt. Verschlafen, den ganzen Tag im Dunkeln verbringen, eine Tasse Wasser statt Kaffee serviert bekommen. Das Bett verstellt sich nicht einmal, sondern immer wieder, immer wieder. Kein Gedanke daran, dass mit einem einfachen Handgriff an irgendeinem Punkt das Ganze in Ordnung gebracht werden kann.

Wenn das «System» aussteigt, muss ein Chef her, wie auch immer, der «das Ganze» überblickt und wieder zum Laufen bringt.

Der Service-Roboter ist der unheimlichste Teil der Kette. Zwar schaut er treuherzig in die Welt und gewinnt die Gemüter auf Anhieb. Aber schaue sich einmal jemand den alten Film «I,Robot» an. Da vergeht einem das Lachen. Plötzlich übernehmen die Roboter das Szepter und lassen durch Lautsprecherdurchsagen den Bewohnern der Stadt ausrichten, sie sollten in den Häusern bleiben. Der Film basiert auf einem Buch von Isaac Asimov: «Ich, der Robot» aus dem Jahre 1950. Der Film erschien 2004. Und spielt im Jahr 2035 in Chicago. Welche Aussichten!

Hoppla, der Tee war ausgetrunken, die Abfahrtszeit des Zuges nahe und kein «System» vorhanden, das mich vom Gartenstuhl direkt auf einen Sitzplatz im Eisenbahnwagen befördert hätte. Aufstehen, Hingehen, Perron suchen, Einsteigen, alles musste ich selbst bewerkstelligen. Wer weiss, 2035 wird das vielleicht ganz anders sein. Welche Aussichten!

Spenden

Wenn Ihnen dieser Artikel gefallen hat, Sie zum Denken angeregt, gar herausgefordert hat, sind wir um Ihre Unterstützung sehr dankbar. Unsere Mitarbeiter:innen sind alle ehrenamtlich tätig.
Mit Ihrem Beitrag ermöglichen Sie uns, die Website laufend zu optimieren, Sie auf dem neusten Stand zu halten. Seniorweb dankt Ihnen herzlich.
Sie können per Twint mit einer CH-Handynummer oder per Banküberweisung im In- und Ausland spenden: IBAN CH15 0483 5099 1604 4100 0

Beliebte Artikel

Mitgliedschaften für Leser:innen

  • 20% Ermässigung auf Kurse im Lernzentrum und Online-Kurse
  • Zugang zu Projekten über unsere Partner
  • Massgeschneiderte Partnerangebote
  • Buchung von Ferien im Baudenkmal, Rabatt von CHF 50 .-

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein