Im Hamsterrad

Frank steht nach einem beruflichen Fehlentscheid vor dem Trümmerhaufen seines Lebens. Antoine Russbach zeichnet in «Ceux qui travaillent» ein schonungsloses Bild der modernen Arbeitswelt.

Frank Blanchet (Olivier Gourmet) ist Koordinator von Cargo-Schiffstransporten. Die Arbeit erfüllt sein Leben, er ist Workaholic. Daneben hat er eine Frau und fünf Kinder. Diese sind sich an ihren meist abwesenden Vater gewohnt, der ihnen im Gegenzug ein neues iPhone, einen Pool im Garten und den wöchentlichen Shoppingtrip finanziert. Als Logistik-Verantwortlicher trifft er in einer schwierigen Situation einen schwerwiegenden Fehlentscheid, der ihn den Job kostet. Ein Schock für ihn, da er sich stets über die Arbeit definiert hat. Diese Neuigkeit verschweigt er zunächst seiner Familie und seinem Umfeld. Zwar verlässt er noch jeden Morgen das Haus und gibt vor, zur Arbeit zu fahren. Doch dass er krank zu Hause bleibt oder bei einem Konzert seines Sohnes auftaucht, wäre früher nie vorgekommen. Allmählich bekommt die Familie Wind von Franks Arbeitslosigkeit und reagiert darauf. Dass er die Personen, die ihm eigentlich am nächsten stehen sollten, belügt, hat wohl mit dem Grund seiner Kündigung zu tun, die einige moralische Fragen aufwirft, bei Frank und bei uns.

Das Milieu und die Figuren sind so realistisch und glaubhaft gezeichnet, dass sie mich über lange Strecken beunruhigen, oft bedrücken und zum Nachdenken herausfordern, die Situationen so echt und nachvollziehbar, dass ich froh bin, wenn sie am Schluss nur im Film und nicht im Leben spielen.

Frank im Kreise seiner Familie

Einblicke in eine andere Arbeitswelt: aus einem Interview mit Antoine Russbach

Warum haben sie dieses Milieu, insbesondere die Seefracht, für Ihren ersten langen Film gewählt?

Ich stellte mir mal die Frage: Wer ernährt uns eigentlich? Dann begann ich mich für die Vertriebsketten zu interessieren, die langen Wege von der Produktion bis zum Essen auf unseren Tellern. Diese stellen eine riesige, für die meisten unsichtbare menschliche Anstrengung dar, von der man im Supermarkt, der Spitze des Eisbergs, kaum etwas wahrnimmt. Danach begann ich mich für die Leute zu interessieren, die in den Büros arbeiten und zum Beispiel die Seefracht bewerkstelligen. Sie sind im Herzen des Systems, aber nur virtuell mit dieser Welt verbunden. Hier herrscht reiner, harter Kapitalismus, in all seiner Pracht und Gewalt.

Einer der Ausgangspunkte des Szenarios war die Entfremdung, die bei der Arbeit geschieht, in unserem Fall bei den White Collars, die im traditionellen sozialen Kino kaum gezeigt werden. Von diesen Büroangestellten nimmt man an, sie seien ihr eigener Herr und Meister und gehören damit zur herrschenden Klasse. In Tat und Wahrheit jedoch sind sie unbedeutend wie die meisten andern Menschen. Frank, mein Protagonist, befindet sich in dieser Situation. Er ist nur ein Bauer in diesem Schachspiel, doch im Blick auf sein Gehalt und seine Verantwortung kann es ihm leicht passieren, dass er private und geschäftliche Interessen verwechselt, was ihn dazu brachte, einen schweren Fehler zu begehen.

Endlich spricht der Mann mit seiner Frau

Eine Innenansicht dieser Welt

Allein Franks jüngste Tochter Mathilde (Adèle Bochatay) ist von seiner Welt, der unmenschlichen Maschinerie der modernen Konsumgesellschaft, noch unberührt. Sie lässt es nicht zu, dass ihr Vater sich ihr entzieht. So ist es vor allem die Beziehung zu ihr, die ihn nach dem grossen Knall wieder aufblühen lässt und ihn zudem lehrt, das Leben mit den Augen eines Kindes zu betrachten. Dass uns Franks Verhalten trotz seines schmerzenden persönlichen Wandels über weite Strecken fremd bleibt, macht die Botschaft am Schluss noch eindringlicher. Kaum sind wir in seine Welt eingestiegen, werden wir wieder zurückgestossen. «Ceux qui travaillent» ist kein leichter, unterhaltender Feelgood-Film, sondern ein berührender, Anteil nehmender und gleichzeitig ein herausfordernder, aufklärender wichtiger Film, weil er etwas von dem zeigt, was die Welt beherrscht. Dies in Szenen im Headquarter, aber auch bei Assessment und beim Coaching. Die Geschichte von Antoine Russbachs Film ist eindeutig, seine Botschaft hingegen mehrdeutig, also offen.

Tochter Mathilde mit dem Vater

Die Frage nach der Botschaft: nochmals aus dem Interview mit dem Autor

Der Film zeigt eine brutale Welt, die die Widersprüche unserer Konsumgesellschaft widerspiegelt. Was wollten Sie damit dem Publikum vermitteln?

Eines Tages stand ich in einem Supermarkt. Ich verspürte eine Art von Aufregung angesichts der Hunderten von Artikeln für nur zwei Franken, die aufgereiht in den Regalen standen. Gleichzeitig begann ich mich nach dem moralischen Preis dieser Waren fragen. Zugegeben, wir können nicht leugnen, dass uns diese Güter gefallen. Doch ist das ein notwendiges Übel? Müssen wir das akzeptieren? Ein Film muss, so meine Überzeugung, Raum bieten, in dem der Betrachter solche Fragen reflektieren kann. Statt ihn in seinen dogmatischen Ideologien zu bestätigen, soll er in seiner Vision des Kapitalismus und in seiner politischen Ausrichtung gestört, verunsichert werden. Ich hoffe, dieser Film leistet das. Wenn wir beispielsweise mit dem Kapitalismus und der Konsumgesellschaft nicht einverstanden sind, sollten wir ihn eliminieren, müssen dann aber akzeptieren, dass dies Konsequenzen hat auf das Angebot der Supermärkte. Doch ich glaube, dass wir dazu kaum bereit sind. Denn es ist gerade diese Unmoral des Systems, die uns ernährt. Eine Absurdität! Es scheint mir heuchlerisch, nicht sehen zu wollen, dass der Kapitalismus ein Problem, aber gleichzeitig ein Segen ist.

Tochter und Vater vor «seinem» Tanker

Ein vorsichtiger, kluger Versuch der Darstellung einer weitgehend unbekannten Welt

Soweit einige Antworten von Antoine Russbach auf die Frage nach der Botschaft des Films. Er hat 2010 den Kurzfilm «Les Bons Garçons», 2008 «Michel» und danach 2018 mit «Ceux qui travaillent» seinen ersten Spielfilm realisiert. Beim Film des Romand verhält es sich anders als bei vielen andern Filmen, bei denen man bald einmal ahnt oder weiss, was ihre Absicht ist. Hier jedoch bleibt vieles offen.

Macht der Regisseur eine radikale Kritik am Kapitalismus? Zeigt er das Problem der Entfremdung in der Arbeit? Provoziert der Film Korrekturen am Kapitalismus? Oder kritisiert er die Globalisierung, die wenige profitieren und viele leiden lässt? Hilft uns vielleicht der Soziologe André Gorz weiter mit seinen Ideen zur gerechten Verteilung der Arbeit, zum Recht auf Arbeit? Oder weist uns der Philosoph Erich Fromm in «Haben oder Sein» auf weiterführende Antworten hin? Oder ist es schlicht und einfach die Innenschau einer Welt, die im Kino nur selten zur Darstellung kommt?

Diese und weitere Fragen und Antworten bietet der Film an, was für mich – neben der grossartigen Regie und dem brillanten Spiel des Protagonisten – seine grösste Qualität darstellt, und indem er ohne Musik auskommt, uns nicht nur inhaltlich, sondern auch formal ins Offene entlässt.

Regie: Antoine Russbach, Produktion: 2018, Länge: 141 min, Verleih: Outside the Box

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