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Nicht nur zur Weihnachtszeit

Eine kleine Hommage an einen grossen Schriftsteller: Heinrich Bölls Erzählungen sprühen vor Witz und Ironie, ein Lesevergnügen an Festtagen oder sonst einmal.

Die Nachkriegsweihnacht im gutbürgerlichen Familienkreis ist Thema in Bölls Nicht nur zur Weihnachtszeit: Tante Milla darf endlich wieder den «guten Weihnachtsbaumschmuck» hervorholen, und alle helfen mit, den Baum so zu schmücken, wie er immer ausgesehen hat. So weit, so gewöhnlich. Dramatisch wird es erst, als Onkel Franz, Preisboxen ist sein Lebensunterhalt, nach dem Fest beginnt, den Weihnachtsbaum wegzuräumen. Die zart besaitete Milla stürzt in eine psychische Krise, Franz stürzt ebenfalls und verletzt sich die Hand beim unglücklichen Sturz des Baumes.

Die Familienkatastrophe lässt sich nur dadurch vermeiden, dass Milla wieder ihren Baum erhält, und alle Weihnachtsrituale täglich 18:30 Uhr stattfinden, also Lieder singen, Kerzen anzünden usw. Vom ewigen Weihnachtsfest lässt sie nicht ab, obwohl es den anderen Familienmitgliedern längst zum Hals raushängt, obwohl im Sommer die Zuckerkringel in der Wärme schmelzen, obwohl der Baum nadelt – er wird dann einfach erneuert, damit Tante Milla nicht in Schreikrämpfe und Schockstarre verfällt. – Über das Ende sei hier nichts verraten. Lesen Sie selbst!

Gegen reaktionäre Tendenzen

Kurzum, das Spektakel des zwanghaften Festhaltens beschreibt Heinrich Böll nüchtern und trocken. Umso verrückter und vergnüglich zu lesen wirkt diese 1952 erstmals veröffentlichte Satire. Als scharfer Beobachter der Nachkriegszeit in Deutschland nimmt Böll die restaurativen Tendenzen in der Literatur, besonders aber in der Gesellschaft im Bundesdeutschland der Fünfziger Jahre aufs Korn. Nach der Naziherrschaft und dem 2. Weltkrieg einfach weiterzumachen, als wäre nichts geschehen, dem lässt sich nur mit beissendem Witz beikommen.

Wir lesen diese Geschichte heute vielleicht ein wenig anders, denn inzwischen ist die Gesellschaft von den «richtigen» Weihnachtsfeiern so weit entfernt, dass man sich fragen muss, was uns dieses Fest überhaupt noch bedeutet. Damals galt die Erzählung als Gleichnis für versteinerte Formen in der Gesellschaft – ein gutes Jahrzehnt später wurden sie aufgebrochen. Dem grossen Nachkriegsschriftsteller oblag es damals, eine Zeit zu verspotten, von der er selbst gemeint hatte, sie sei vorbei. Die Satire gelingt ihm überzeugend, schauen wir nur den kleinen silbrig gekleideten, rotwangigen Weihnachtsengel an, der, geheimnisvoll von einem unsichtbaren Mechanismus gesteuert, in gewissen Abständen ‹Frieden, Frieden› flüstert. Mehr braucht es nicht, um die Scheinheiligkeit einer Gesellschaft aufzudecken.

Scharfe Spitzen gegen den Kulturbetrieb

Heinrich Böll wurde vor allem durch seine grossen Romane, Gruppenbild mit Dame zum Beispiel oder Die verlorene Ehre der Katharina Blum berühmt. Er hat daneben zahlreiche Erzählungen geschrieben; in vielen nimmt er Aspekte der Gesellschaft in den Jahren des Wirtschaftswunders aufs Korn. Sie sind heute noch absolut lesenswert.

Eine meiner Lieblingserzählungen ist Doktor Murkes gesammeltes Schweigen (1955 entstanden). Dazu muss man wissen, dass die deutschen Rundfunkanstalten – sie waren nach dem Krieg von den Alliierten neu gegründet und inhaltlich betreut worden – im Kultursektor damals einen dominanten Platz einnahmen. Aber schon immer hat es Zeitgenossen gegeben, die sich gescheiter fühlen als andere. Mit einem solchen Kulturfürst hat es der Rundfunkredakteur Doktor Murke zu tun. Da «der grosse Bur-Malottke» mit dem Intendanten befreundet ist, wird ihm jede Marotte erlaubt. Deshalb muss Murke nun in dessen zahlreichen Vorträgen ein Wort ändern: Statt ‹Gott› wünscht der grosse Meister nun ‹jenes höhere Wesen, das wir verehren› einzufügen.

Wenn wir daran denken, dass damals noch mit grossen Tonbändern gearbeitet wurde, bei denen Fehler von Hand herausgeschnitten wurden, verstehen wir Murke gut, der diesen Auftrag verflucht und eine raffinierte Rache findet: Er lässt den aufgeblasenen Bur-Malottke die neue Formulierung so oft sprechen, wie ‹Gott› in den Vorträgen vorkommt, und natürlich ist dabei zu berücksichtigen, dass die Formen im Genitiv, Dativ und Akkusativ entsprechend anders lauten. So muss der arrogante Mensch die stumpfsinnige Aufgabe auf sich nehmen, insgesamt 35 Mal seine gewünschte Änderung aufs Band zu sprechen. – Eine wunderbare Persiflage auf einen abgehobenen Kulturbetrieb, der weder dem Einzelnen noch der Gesellschaft etwas zu bieten hat.

Auch diese Erzählung besticht durch Bölls Kunst, Schwachstellen mit leichter, aber spitzer Feder aufzuspiessen. Es lohnt sich wirklich, diesen herausragenden Autor wieder zu lesen. Er hat den Nobelpreis nicht umsonst erhalten. Heinrich Böll hat stets hohe moralische Massstäbe gesetzt und sich in den Diskurs seiner Zeit eingemischt, sei es in der Zeit der Rote-Armee-Fraktion, sei es im Kampf gegen die Stationierung von Atomwaffen in der Bundesrepublik, sei es zur Unterstützung der vietnamesischen Flüchtlinge Ende der 1970er Jahre.

Der Sammelband Erzählungen, erschienen 2006 bei Kiepenheuer&Witsch, ist noch erhältlich und allemal eine schöne Bescherung.

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